Vor etwa 100 Jahren stand ein kleines Mädchen beim Fotografen. Im schönsten Sonntagskleid, eine Schleife im Haar, die Wangen rot geschminkt, schaute es ernst in die Kamera. Dieses Mädchen war meine Großmutter. Von ihr gibt es kaum Schnappschüsse, denn sobald sich eine Kamera auf sie richtete, knipste sie ihr Foto-Lächeln an, drückte den Rücken durch und erstarrte in einer Pose. Fotografiert werden, blieb ihr Leben lang etwas besonders.
Für ihre Urenkelin dagegen ist fotografiert werden, so selbstverständlich wie Zähneputzen. Doch auch sie posiert oft, zieht dann lustige Gesichter oder streckt die Zunge raus. Bald schon wird sie solche Fotos selbst aufnehmen und per Internet teilen.
Welch große Rolle Selfies für Heranwachsende spielen, wurde mir wieder einmal klar, als wir Freunde in Barcelona besuchten. Deren Töchter sind zwölf und zehn und haben beide eigene Smartphones. Sie sind bei Instagram, Snapchat, Youtube und Musical.ly. Plattformen, die nach Selbstdarstellung verlangen, ob als weichgezeichnete Schönheit, als comichaft verzerrte Spaßfigur oder als Popstar-Verschnitt. Verschiedene Rollen und Posen, in den sich Jugendliche ausprobieren, wenn sie die Kamera auf sich richten und in denen sie sich zeigen können, wenn sie die Fotos oder Videos im Netz hochladen.
„Statt zu sagen, was man tut und wie man sich fühlt, schickt man sich einen Schnappschuss. Das beschreibende Kommunikationsmodell der Sprache weicht dem zeigenden der Bilder“, meint Roberto Simanowski in seinem Buch „Facebook-Gesellschaft“. Der Professor für Digitale Medien, der in Hong Kong lehrt, vermutet, dass unsere Erinnerungen bald maßgeblich von Algorithmen beeinflusst sein können. „Den digitalen Medien ist ein ,Erinnerungsdarwinismus‘ eingeschrieben, wonach nur das, was ständig aufgerufen wird (und so fortwährend seine Bedeutsamkeit nachweist), innerhalb des Speicherraums verbleibt (wenn es jeweils ins aktuelle Format überführt wird).“
Herzen und Likes entscheiden dann darüber mit, was erinnerungswürdig bleibt und was nicht.
Deshalb wird - wie um die Jahrhundertwende - die Inszenierung wieder ein zentraler Aspekt. Ein Beispiel dafür ist die bei Heranwachsenden beliebte App musical.ly, eine Art Karaoke-Kurzvideo-Netzwerk. Dort leiht man sich die Stimme angesagter Popstars, bewegt dazu Lippen und Hüften und kann sich für 15 Sekunden selbst als Star inszenieren. Ein anderes Beispiel sind viele Profilbilder auf unterschiedlichen Plattformen. Es gibt sogar Agenturen die sich auf Porträts für Dating- und SocialMedia-Profile spezialisiert haben. Und auch bei Amateurbildern ist oft lang geprobt, was spontan wirkt, das scheinbar Unperfekte aufwendig arrangiert.
Doch anders als bei meiner Großmutter greift die Inszenierung nicht nur an einem Nachmittag in die Kindheit ein, sondern wird für meine Tochter Teil ihres Teenager-Alltags. Welchen Wert sie ihr dann einräumen wird, hängt sicher auch von uns ab. Wie viel Selbstvertrauen, Sicherheit und Geborgenheit wir ihr vermitteln können, damit sie sich nicht auf der Jagd nach Anerkennung aus den Augen verliert. Oder, wie Roberto Simanowski schreibt: „Es ist nicht, wie oft unterstellt wird, das soziale Netzwerk, das vom wirklichen Leben abhält, es ist der erfahrene Mangel eines wirklichen Lebens, der das soziale Netzwerk als ,anständigen‘ Ausweg so attraktiv macht.“