Als ich einer Kollegin erzählte, dass ich mit Maria auf Pokémon-Jagd gehe, meinte sie: „Du machst auch jeden Scheiß mit.“ Es war nicht böse gemeint, eher überrascht. Schließlich ist Maria erst acht, hat noch kein eigenes Smartphone und der Hype um das neue Spiel könnte theoretisch an ihr vorbeiziehen. Praktisch war das Spiel mit der erweiterten Realität (Augmented Reality) auch in Kindernachrichten auf Radio Teddy und KiKa ein Top-Thema. So hatte sie längst davon gehört, bevor sie die App auf meinem Smartphone entdeckte. Ich hatte sie mir heruntergeladen, weil ich neugierig war auf diesen virtuellen Zeitvertreib, der weltweit Menschen in seinen Bann zieht.
Auf der Karte sieht man die Pokémons in der Umgebung (rechts unten) und die Pokéstops. Der rosa Regen bedeutet, dass dort ein Lockstoff aktiv ist.
Ohne Maria hätte ich die App vermutlich schnell wieder gelöscht. Zum einen, weil ich mir als Erwachsene ziemlich kindisch dabei vorkam, auf dem Smartphone-Bildschirm nach virtuellen Monstern Ausschau zu halten. Zum anderen, weil mir dieses Universum aus über 140 unsterblichen Kreaturen mit Namen wie Taubsi, Golbat, Hypno, Knofensa und Quaputzi zu komplex war. Jede hat ihre eigenen Fähigkeiten, Attribute und Entwicklungsmöglichkeiten. Es gibt Wassermonster, Elektromonster, Käfer, Pflanzen, Flügelwesen, Giftspritzer, Feuerdrachen, Kämpfer, Gesteinsmonster und Psychomonster. Sie müssen beim Spazierengehen mit Pokébällen eingefangen, trainiert und in den Arena-Kampf geführt werden. Die Verlierer sterben nicht, sondern werden nach dem Kampf mit Zaubertränken wieder in ihre alte Form gebracht. Diese Zaubersäfte und die Pokébälle können an sogenannten Pokéstops eingesammelt werden, die auf einer Art Stadtplan angezeigt werden, der auf Googlemaps basiert.
Maria war davon sofort fasziniert. Und ich von der Möglichkeit, ihr spielerisch ein paar wichtige Verhaltensregeln mit auf den Weg zu geben: Handy runter, wenn es über die Straße geht. Zum Spielen nicht mitten auf dem Bürgersteig stehen bleiben, sondern an den Rand treten. Und keinem Fremden trauen! Denn bei dem AR-Spiel ist es unglaublich einfach für Erwachsene, mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt zu treten. Die jungen Monsterjäger lassen sich leicht identifizieren und man hat sofort ein Gesprächsthema. Deshalb erzählte ich Maria auf unseren ersten Jagdausflügen davon, dass es Menschen gibt, die Kinder mit Pokémon Go in eine Falle locken wollen. Um sie beispielsweise zu entführen und von den Eltern Geld zu erpressen. „Gehe nie mit jemandem mit, der dir zeigen will, wo es seltene Pokémons gibt. Frag nur jemand Fremdes um Rat, wenn ich dabei bin“, waren meine Standardsätze auf unseren ersten Jagdspaziergängen. Maria verinnerlichte meine Belehrungen schnell. Sie ließ die Hand mit Smartphone herunterhängen, wenn wir über die Straße liefen. Sie trat automatisch zur Seite, wenn sie die Pokébälle warf und erfand selbst mögliche Reaktionen auf Gefahrensituationen, wie „Wenn mir einer ein tolles Buch über Pokémons zeigen will, sag ich: ,Dann hole es her‘ oder schreie.“
Als dann die besorgte Mutter in mir halbwegs beruhigt war, hatte ich endlich auch einen Blick für die Chancen, die diese neue Spielform birgt:
1. Pokémon kann Lust auf Mathe machen: Für wie viel Power-Ups reicht der Sternenstaubvorrat, wieviel Bonbons fehlen bis zur nächsten Pokémon-Entwicklung? Wie viele Bälle bleiben, wenn fünf verschossen wurden? Alles Aufgaben, die Maria ganz freiwillig nebenbei und im Kopf errechnet.
2. Pokémon kann Lust auf Naturwissenschaften machen: Sind gegen Pflanzenmonster Angreifer mit Feuer- oder Wasserkräften Erfolg versprechender? Mit welchem Winkel wirft man den Pokéball am effektivsten?
3. Pokémon kann Lust auf Stadt und Geschichte machen: Die Pokéstops sind quer über die Stadt verteilt, lenken die Aufmerksamkeit auf auffällige Fassaden oder Denkmäler. Mit Maria fallen uns so manchmal Häuser auf, an denen wir sonst achtlos vorbeigegangen waren, und wir reden beim Monsterjagen manchmal über die Vergangenheit: Am Bahnhof Friedrichstraße am „Denkmal zur Erinnerung an Kindertransporte während der NS-Zeit“ und an Stolpersteinen über die Gräuel der Nazizeit. Am Marx-Engels-Denkmal über den Untergang der DDR.
4. Pokémon kann Altersgrenzen überwinden: Es zählt das Level, nicht das Alter. Als Maria im Park wissen wollte, wie man in der Arena kämpft, fragte sie – mit meiner Erlaubnis – jugendliche Spieler. Und obwohl die fast zwei Köpfe größer waren, beantworteten sie auf Augenhöhe ihre Fragen. Kein „Dafür bist du zu klein“, kein „mit Babys reden wir nicht“. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit hat sie mir später dann gezeigt, wie ich ein Pokémon in die Arena bringen kann.
5. Pokémon kann Stubenhocker zu Spaziergängern machen: Zum Monsterfangen und für die Arena-Kämpfe muss man vor die Tür. Dabei geht es nicht um Mord und Totschlag, sondern um Spaß mit Strategie – an der frischen Luft.
6. Pokémon kann gemeinsame Erlebnisse schaffen: Seit wir die App haben und Ferien sind, gehen wir beide abends oft zusammen spazieren. Manchmal treffen wir uns auch mit einer Freundin (momentan Level 24), damit Maria jemanden zum Fachsimpeln hat. Dabei sind wir auch schon bis zur Museuminsel geschlendert. Dort trug der Berliner Dom sein nächtliches Lichterkleid und Musiker mit Geige und E- Piano verzauberten Touristen, Spaziergänger und Pokémon-Jäger. Ein unvergesslicher Moment.
In der Arena kann man ab Level 5 kämpfen. Auch gemeinsam. Die Pokémons verlieren dabei nur ihre Kraft, sie sterben nicht!