Vorm ins Bett und Vorlesen gibt es bei uns einen ritualisierten Tochter-Mutter-Moment. Wir sitzen dann im Bad und Maria berichtet von ihrem Tag. Manchmal erzählt sie, was sie im Untericht gelernt hat oder singt ein neues Lied vor. Aber meist ist es die Hortzeit, die sie abends noch beschäftigt. Wer was zu wem gesagt hat, wie gespielt, gezankt oder geweint wurde, wie sie sich fühlte. Und häufig ploppt dabei auch die Frage nach der Schuld auf. Ein Begriff, der eine Renaissance erlebt.
Regelmäßig taucht „Schuld“ in Headlines und Tweets auf. An der Griechenlandkrise sind entweder Angela Merkel, die Europäische Union, die griechische Links-Regierung oder gleich das ganze griechische Volk schuld. Der Sommer ist wegen Hitze oder Kälte dran und wird für Stau, Akw-Störung, Herzinfakt und schlechte Laune schuldig gesprochen. Lehrer sind schuld an schlechten Noten, Eltern an verzogenen Kindern, Trainer an Niederlagen, Ausländer an Arbeitslosigkeit, Internet an Verrohung und – mein persönlicher Favorit - das iPhone 6Plus an der Armverletzung eines NBA-Profis. Der San-Antonio-Spurs-Spieler Matt Bonner hat erklärt, dass größere Smartphone-Display sei eine stärkere Belastung für die Finger und damit ursächlich für die Bänderzerrung seines Wurfarms.
Während im Gerichtssaal, der mutmaßliche Täter, das mutmaßliche Opfer, Zeugen und Gutachter gehört werden müssen, bevor ein Urteil gefällt wird, sind die moralischen Schuld-Sprüche wie ein hektischer Zeigefinger, der in Gut und Böse aufteilt und kaum eine Frage nach dem Warum toleriert. Gerade in Zeiten von SocialMedia, in denen die eigene Weltanschauung algorithmisch verstärkt wird und Gegenargumente leicht auszublenden sind, sollte mit der Verteilung von Schuld achtsam umgegangen werden.
Deshalb versuche ich in Marias Welt, den Begriff durch „verantwortlich“ zu ersetzen. Augenscheinlich Schuld an den Tränen eines geschubsten Kindes ist der Schubser, aber (mit-)verantworlich vielleicht der Geschubste selbst, weil er den anderen vorher geärgert hat. Oder ein Dritter, der eine Mutprobe forderte. Maria soll lernen, das Für und Wider abzuwägen, Grautöne zu erahnen und die Frage nach dem „Warum?“ zu stellen. Damit sie sich später auch in der Ruhelosigkeit der Timeline Zeit zum Nachdenken gibt, bevor sie ihr Urteil für die Ewigkeit digitalisiert.
P.S. Schon kleine KInder können das Konzept der unterschiedlichen Perspektiven begreifen lernen. Zum Beispiel mit dem "Ziege und Gans"-Wendebüchern von Isabel Abedi und Silvio Neuendorf. Darin wird sowohl aus der Sicht der Ziege als auch der Gans der gleiche Streit erzählt. Und am Ende zählt nicht wer "Schuld" hat - sondern die Versöhnung,