Ein Mädchen hebt das Kleid und spielt am Bauchnabel. Das selbe Kind sitzt mit nacktem Oberkörper auf der Rückbank eines Autos. Oder springt unbekleidet auf dem Hotelbett herum. Der amerikanische Fotograf Wyatt Neumann machte diese Fotos auf einer Reise mit seiner zweijährigen Tochter – für ihn Momentaufnahmen voller kindlicher Unschuld. Er postete die Bilder auch in seinem Reisetagebuch im sozialen Netzwerk.
Es brach ein Sturm über ihn herein. Der Fotograf wurde im Internet in Kommentaren übel beschimpft, an den Pranger gestellt und seine Accounts von den Betreibern kurzzeitig heruntergefahren. Viele sahen die Fotos aus dem Blickwinkel der Schande, ächteten Neumann als „perversen“ Vater, verdächtigten ihn der Kinderpornografie und des Missbrauchs seiner Tochter.
Als ich die Bilder das erste Mal sah, hatte ich ein mulmiges Gefühl. Erst nachdem ich sie ohne Vorurteile betrachtete, mich mit Neumanns Anliegen und Kommentaren beschäftigte, konnte ich mich an ihrer Schönheit freuen. Denn auch ich habe die Kinderporno-Schere im Kopf.
Wenn ich Maria im Sommer in Omas Garten fotografiere, lösche ich danach meist die Bilder, auf denen sie nackt ist. Aus der diffusen Angst heraus, sie könnten in falsche Hände geraten. Dabei gibt es von mir selbst viele Nacktbilder aus Kinderzeiten, am FKK-Strand, im Garten, in der Wanne oder im offenen Bademantel. Und das, obwohl ich viel weniger fotografiert wurde als Maria. Aber es sind analoge Fotos, die in Schachteln und Alben liegen. Privat verwahrt.
Foto: Wyatt Neumann
Niemand macht sich Sorgen, dass dieser Teil meiner Kindheit missbraucht werden könnte. Doch schon bei den Schnappschüssen in meinem Smartphone habe ich dieses Sicherheitsgefühl nicht mehr. Das Handy könnte gehackt, die Alben geklaut werden. Bei Fotos, die ins Internet gestellt werden, ist der Kontrollverlust Teil der Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Die Was-Wäre-Wenn-Überlegung stanzt sich wie ein Wasserzeichen auf jeden digital festgehaltenen Augenblick.
Wyatt Neumann nennt es die „Sexualisierung der Unschuld“. Für ihn als Fotograf und Vater eine Beschränkung, die er nicht hinnehmen will. Deshalb hat der die virtuelle Debatte in die reale Welt geholt. Er hat die Fotos seiner Tochter und die dazu geposteten häßlichen Kommentare analogisiert und in der Ausstellung „I feel sorry for your children - The Sexualization of Innocence in America“ nebeneinandergehängt.
„Ich glaube an unsere Fähigkeit, Angst mit Liebe und Ignoranz mit Verständnis zu bekämpfen“, schrieb er dazu. Und: „Du bist der Richter... Ist es Pornografie oder Kunst, Ausdruck oder Ausbeutung? Es liegt an uns...“