Ich habe in unsere Zukunft gesehen: Wenn meine Maria in die Pubertät kommt, wird sie sich mit wenigen Klicks ins Zentrum einer Internetclique katapultieren könnnen. Schon heute haben Mädchen und Jungen diese Möglichkeit: zum Beispiel mit dem Livestream-App „YouNow“. Durch die Webcam oder Handykamera kann in Echtzeit das eigene Leben ins virtuelle Rampenlicht gestellt werden.
Als ich 13 war, hingen wir vor der Schwimmhalle herum, rauchten heimlich und fühlten uns unheimlich erwachsen. Ich war schlaksig groß und nicht unbedingt das begehrteste Mädchen der Clique. Als ich mit 14 zum ersten Mal richtig knutschte, war ich so stolz, dass ich es sofort meinen Eltern erzählen musste. Ihre Begeisterung hielt sich in sehr engen Grenzen.
Als ich mich bei „YouNow“ einloggte, musste ich wieder an diesen Moment denken.
Der New Yorker Spieleentwickler Adi Sideman nennt seine 2011 gestartete App „Soziales Fernsehen“. Anfangs nutzten bei uns vor allem Youtuber-Stars diese Plattform, um live auf die Fragen ihrer Fans zu antworten. Inzwischen wollen von denen aber immer mehr selbst im Mittelpunkt stehen. Seit Beginn des Jahres wächst die Zahl der YouNow-Nutzer in Deutschland rasant. Dabei kann man auf dieser Plattform als Beobachter oder als Akteur unterwegs sein.
Wer sich für die Bühne entscheidet, richtet die Kamera auf sich und schon kommt das Publikum. Per Chatfunktion können Fragen oder Wünsche an den „Star“ gestellt werden, der live darauf antwortet. Was für ein aufregendes Gefühl muss das für Jugendliche sein, wenn sich unter dem eigenen YouNow-Profil Like-Herzen und Fans sammeln.
Screenshot YouNow
Ich sah bei mehreren Mädchen zu. Das jüngste 12, das älteste 17.
Es war spannend, zu beobachten, wie jede versuchte, ihre Rolle zu finden: als mütterliche Freundin, hippe Schönheit, coole Abgeklärte oder als Kumpel von nebenan. Dabei waren die Fragen an die Mädchen oft die gleichen und wiederholten sich: Wie alt bist du? Wo kommst du her? Warum machst du das? Auf letztere Frage antworteten die meisten mit „Aus Langweile“. Eine meinte: „Ich träume davon, tausend Like-Herzen zu bekommen.“
Es war beruhigend, zu beobachten, wie oft über die Gefahr durch Pädophile oder Stalker die Rede war und die Mädchen wussten, dass sie aufdringliche Fans blocken oder melden können. (wie das geht, erklärt klicksafe.de)
Es war erschreckend, zu beobachten, wie freigiebig die Mädchen mit ihren Angaben waren. Viele erzählten, wo sie wohnen, wo sie zur Schule gehen, wie sie heißen, wie alt sie sind, welche Gewohnheiten sie haben.
Obwohl ich nur bei banalen Chat-Streams zusah, war es leicht vorstellbar, wie einfach sich die „Stars“ für Like-Herzen manipulieren lassen. Aufforderungen wie „Steh mal auf und dreh dich“, „Zeig mal deine Schuhe“, „Nimm mal deine Brille ab“ wurde Folge geleistet. Ohne großes Überlegen.
Aber wer hat im Scheinwerferlicht schon Zeit, in Ruhe nachzudenken und abzuwägen? Wer will dafür seine mühsam gesammelten Fans verlieren? Die Last des Ruhms - sie liegt auf den Schultern dieser Mädchen und Jungen.
Früher erwischte einen nur die Clique (oder schlimmstenfalls die Eltern), wenn man über die Stränge schlug, um zu imponieren. Heute hat der Kreis der Zeugen unkontrollierbare Dimensionen angenommen. „In der Zukunft wird jeder für 15 Minuten weltberühmt sein“, sagte der Pop-Art-Künstler Andy Warhol 1968 voraus. Wie können Eltern ihre Kinder vorbereiten, dass sie ihre „15 Minuten“ nicht bereuen? Ich weiß es nicht. Aber ich will mich auf die Suche nach Antworten machen...
Der Kölner Mediendesigner Chris setzt sich in seinem Youtube-Kanal "medYOUcation" mit dem Phänomen YouNow auseinander. Unbedingt ansehen!
Interview mit YouNow-Gründer Adi Sideman (englisch)