Das Universum der Bites und Bytes ist knallig bunt, schwindelerregend schnell, berauschend. „Kaum einer guckt noch aus dem Zugfenster, alle haben ihr eigenes Fenster zur Welt“, schreibt Andre Wilkens. Mit seinem Buch „Analog ist das neue Bio“ plädiert er für eine menschliche digitale Welt. Einen gesunden Umgang mit der virtuellen Kost.
Zugegeben, im Vorfeld fand ich den Titel des Buches plakativ und blöd. „Bio macht böse“, erinnerte mich an eine kanadische Studie, die 2010 herausfand, dass Bio-Käufer unmoralischer und unsozialer handeln als Normal-Käufer, weil sie ihr Karmapunkte-Konto sozusagen an der Kasse aufstockten. Ich erwartete einen der Alles-Digitale-ist-Schlimm-Propheten und hatte keine Lust, mir das Buch zu kaufen. Als ich aber mitbekam, dass Wilkens im Rahmen der Lesereihe #Microsoftliest ausgerechnet in den Räumen von Microsoft daraus lesen würde, dachte ich: "Ha! Erwischt!" Und ging hin. Ich wurde überrascht.
Andre Wilkens besitzt Smartphone, PC und Tablet. Er nutzt sie gern. Er ist kein Gegner, er hinterfragt. „Digital ist wie eine legale, rezeptfreie Droge, die eine Packungsbeilage braucht.“ Die Risiken und Nebenwirkungen drangen durch die Snowden-Enthüllungen zum ersten Mal in das kollektive Bewusstsein. Der amerikanische Systemadminstrator sei eine Art Tschernobyl.
Vor der Atomkatastrophe galten Bio-Leute als Spinner. Danach fragten sich die Menschen, woher ihr Essen kam, wurden ökologische Nahrungsmittel zum Trend. „Bio beeinflusst aus seiner Nischenecke den Mainstream, setzt auch in der Massentierhaltung Standards.“
Eine ähnliche Nachhaltigkeit wünscht sich Wilkens in der virtuellen Welt in Bezug auf Daten und Privatsphäre. „Jeder Mensch hinterlässt durch die Nutzung digitaler Medien unzählige Spuren und gibt so, gewollt oder ungewollt, Auskunft über seinen Standort, seine Freunde, seine Überzeugung, über seinen Konsum... Das hat er vorher auch getan, aber es war wie Luft 'im Winde verweht' oder auch Abfall des Lebens.“ Dieser Abfall gilt als der Bodenschatz des 21. Jahrhunderts. Noch wird er geschürft wie im Wilden Westen. Für eine humanistische digitale Gesellschaft aber braucht es Regeln und Bewusstsein, ist Wilkens überzeugt. Deshalb könnte ein Trend zum Abschalten, zur selbstbestimmten Datenfreigabe, an Bedeutung gewinnen.
Willkens fragt sich aber auch, ob es in der Zukunft eine „analoge Oberschicht“ geben wird, während die Masse in der Datenwolke lebt. Digitale Auszeiten muss man sich leisten können. Ein Brief ist teurer als eine Mail. Ein Besuch im Ausland kostet, eine Stippvisite via Skype nicht.
Seine Hoffnung ist eine gesunde Mischform und er versucht diese zu leben. Als sein Sohn als Siebenjähriger einen Gameboy wollte, entschieden sich Wilkens und seine Frau dafür – damit der Junge via Spielanweisungen eine neue Sprache lernt. Inzwischen ist er 17 und findet Papas bewusste Rückschritte in die analoge Welt cool. „Irgendwann saßen wir alle drei zusammen, und jeder starrte auf einen eigenen Bildschirm. Da haben wir uns zum ersten Mal einen Fernseher zugelegt. Jetzt gucken wir wenigsten gemeinsam auf den gleichen Bildschirm.“ Und dann laufen da Filme – aus der Videothek. Sein Buch liegt inzwischen übrigens als analoge Nachtlektüre neben meinem Bett.