Ein kluges Sprichwort sagt: „Kleine Kinder brauchen Wurzeln, große Kinder Flügel.“ Langsam fängt meine achtjährige Tochter an, ihre Flügel auszubreiten. Und ich hätte nie gedacht, dass es mir so schwer fallen würde, sie fliegen zu lassen.
Maria beginnt mit ihren ersten kleinen Ausflügen ohne permanente elterliche Begleitung. Am liebsten würde ich ihr sofort ein Handy in die Hand drücken. Damit ich sie jederzeit erreichen kann. Oder ein GPS-Gerät.
Ich frage mich, wie meine Mutter das ausgehalten hat. Damals, als es noch nicht einmal ein Telefon im Haus gab. Im Nachhinein bewundere ich sie dafür, dass sie mich als 16-Jährige mit einer Freundin durch Irland trampen ließ und eine Postkarte dann und wann das einzige Lebenszeichen von mir war.
Ich würde vermutlich durchdrehen. Dabei halte ich Maria für ein cleveres und empathisches Mädchen. Sie hat früh verstanden, dass ihr nicht jeder nur Gutes will und sie sich auch schützen muss. Wir haben ihr ein gesundes Misstrauen als eine Wurzelinformation mit auf den Weg gegeben. Warum also meine latente Unsicherheit?
Vielleicht liegt es daran, dass ich seit Marias Geburt mit Produkten gegen Elternängste konfrontiert werde. Eigentlich sogar schon davor. Bei der Geburt hätte ich Nabelschnurblut horten können – gegen mögliche spätere Krankheiten. Im Säuglingsalter aus Angst vor plötzlichem Kindstod Atmungs- und Bewegungsüberwachungsgeräte in die Wiege legen können.
Auch für Kinder im Flügelalter gibt es in digitalen Zeiten eine riesige Palette vonAngstdämpfern: von Kinderschutzsoftware, über GPS-Tracker für den Schulranzen, Kinderhandys bis hin zu Überwachungs-Apps fürs Smartphone.
Bisher habe ich mich gegen diese Produkte entschieden. Vor allem weil ich mich schützen wollte als Maria klein war. Ein Überwachungsgerät in der Wiege hätte mich täglich an die Möglichkeit des Kindstods erinnert und verunsichert.
Jetzt würden mich die digitalen Helfer beruhigen, weil ich das Gefühl hätte, immer zu wissen, wo mein Kind ist. Aber was würde es für meine Tochter bedeuten, ständig mit Muttis Angstdämpfer in der Hosentasche oder am Ranzen herumzulaufen? Ständig das Gefühl zu haben, überwacht zu werden? Stutze ich ihr damit nicht die Flügel, noch bevor sie abhebt?
Ich habe vor kurzem mal wieder eine alte Rio-Reiser-Platte aufgelegt. „Der Traum ist aus“ gehörte als Jugendliche zu meinem Lieblingsliedern. Am Ende singt er: „Wir hab'n nichts zu verlier'n außer unserer Angst. Es ist uns're Zukunft, unser Land. Gib mir deine Liebe, gib mir deine Hand.“ Vertrauen statt Verunsicherung! Auch wenn's mir schwer fällt.