Werden unser Kinder wie dressierte Hunde über jeden Algorithmus springen, den ihnen das Netz hinhält? Das befürchtet der amerikanische Informatiker und Internetpionier Jaron Lanier. Beim „Digital Masterminds @Base_Camp“ sprach der 55-Jährige darüber, wie die Mischung aus Informationsüberangebot, errechneten Empfehlungen und menschlicher Bequemlichkeit eine ganze Generation verändern könnte. Die raffiniertesten Stöckchenwerfer sind demnach Facebook, Google und Amazon.
Was ziehe ich an, was will ich frühstücken, mit wem will ich in der Schule spielen, wofür mein Taschengeld ausgeben? Schon jetzt verlangt jeder Tag von meiner siebenjährigen Tochter eine Serie von Entscheidungen. Noch allerdings ist ihr Klamottenregal übersichtlich analog, konkurriert ihr Frühstück nicht mit den gefilterten Foto-Impressionen anderer Essensteller. Auch ihre Kaufentscheidungen sind (meistens) auf die reale Welt beschränkt.
Trotzdem zeigt sie manchmal leichte Anzeichen von Überforderung ob des Angebotes. Und das wird sich bald schon explosionsartig ausdehnen. Auch die Spiegelung ihrer Entscheidung wird sich vervielfältigen, in virtuelle Herzen, Likes, Kommentare und Datenspuren verwandeln. Diese wiederum werden gesammelt, verknüpft und maschinell ausgewertet. Von Algorithmen, mathematischen Formeln.
Die erste Lösungsanweisung für einen Rechenapparat wurde 1843 geschrieben – von einer Frau. Obwohl die Maschine zur Berechnung von Bernoulli-Zahlen damals nicht gebaut wurde und bis zur Erfindung des Computers noch ein Jahrhundert verging, gilt Ada Lovelace als erste Programmiererin der Welt. Ihre Leidenschaft für Zahlen und Formeln brachten der Engländerin jede Menge Anfeindungen und Probleme. Galten Mathematik und Technik im 19. Jahrhundert doch als Männersache.
Heute, im 21. Jahrhundert, sind Algorithmen in aller Hände. Im Smartphone und im Computer, berechnen Aktienkurse - und menschliches Verhalten. Mit „Behavioural data“ individuellen Verhaltensmustern, die jeder Nutzer im Internet hinterlässt. Was kaufe ich, was klicke ich, was gefällt mir, was interessiert mich, wo bewege ich mich. Informationen, die bei Facebook, Google, Amazon & Co. in riesigen Serven zusammenlaufen.
Jaron Lanier in Berlin beim „Digital Masterminds @Base_Camp“
Foto: Base_Camp/Presse
Diese Daten-Konzentration sei eine Gefahr für „die Rechte des Individuums und die Demokratie“, meint Jaron Lanier, der Programmierer aus Silicon Valley. Daten sind Macht. Und ein Werkzeug zur Manipulation. Wenn jemand sieben Vorschläge bekommt, kann er sich alle durchlesen, abwägen, sich eine eigene Meinung bilden. Wem der virtuelle Helfer hunderte Möglichkeiten anbietet, wird sich nur die ersten ansehen – und ihnen Glauben schenken.
So wies der US-Verhaltensforscher Rob Epstein darauf hin, dass Google über den Ausgang von Wahlen in der analogen Welt entscheiden kann. Dafür analysierte er das Verhalten von rund 4500 unentschlossenen Wählern in Indien und Nordamerika. Es zeigte sich, so Epstein, dass bei bis zur Hälfte der Unentschlossenen die virtuelle Welt das Kreuzchen beeinflusste. Und zwar verschob sich die Gunst in Richtung des Politikers, der weit oben in den Suchergebnissen auftauchte.
Facebook manipulierte für eine Studie über die Gefühle seiner Nutzer ohne ihr Wissen deren Timeline. Die Einträge der virtuellen Freunde wurden vorgefiltert, einige bekamen mehr positive Nachrichten zu sehen, andere eher negative. Das Ergebnis: Menschen mit „netterer“ Timeline neigten dazu, selbst mehr Positives zu posten.
„Firmen, die Verhaltens-Daten kontrollieren, kontrollieren die Gesellschaft und können sie über Jahrzehnte beeinflussen“, warnt Lanier, dessen Buch „Wem gehört die Zukunft“ den Untertitel trägt „Du bist nicht Kunde der Internetkonzerne. Du bist ihr Produkt.“ Viele Menschen würden sich wohl dabei fühlen, wie dressierte Hunde durchs Internet zu hecheln. Denn sie werden in ihren Ansichten bestärkt, können dialektische Auseinandersetzungen umgehen, Entscheidungen zeitsparend filtern lassen und bekommen dafür, wenn's gut läuft, virtuellen Applaus.
Da fällt es schwer, bei sich zu bleiben. Doch genau das wünsche ich mir für die nächste Generation. „You have to be somebody before you share something“, meinte Lanier, dem 2014 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde. Du muss jemand sein, bevor du etwas teilst.
Ich denke, dass es unseren Kindern helfen kann, wenn sie zumindest die Grundbegriffe der Programmier-Sprachen verstehen, um die Mechanismen im Hintergrund zu erahnen und ein Bewusstsein für den Wert von Daten zu bekommen. Auch müssen sie mit Wertschätzung in der analogen Welt verankert sein und ihrem Bauchgefühl vertrauen. Damit sie nicht über jedes Stöckchen springen, dass ihnen hingehalten wird.
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