Daten auf Klopapier

„Nur noch einen Sticker“, versuchte Maria die abendliche Ins-Bett-Geh-Routine hinauszuzögern. Sie schrieb sich gerade im Familienchat mit ihrer Tante, die in Mexiko im Büro saß. Auf Papas Smartphone – denn der hat sogar grafisch animierte Sticker. So flogen küssende Katzen, lachende Smileys und tanzende Strichmännchen überm Atlantischen Ozean hin und her bis ich sagte: „Jetzt ist aber wirklich Schluss.“ Maria wollte trotzdem nicht aufhören – und malte im Bad noch ein paar Sticker aufs Toilettenpapier. Die fand ich großartig – und doch stießen sie mich auf meine Grenzen. Wie bringe ich Maria bei, dass die Smileys das Abbild eines Codes sind, der beim Empfänger ganz anders aussehen können?

In der realen Welt kann ich meiner Tochter zeigen, was der Unterschied zwischen Wasser und Stein ist. Und sie kann die Welt - im wahrsten Sinne des Wortes - begreifen lernen. Im Virtuellen hingegen bin ich Imaginationen ausgeliefert. Ich glaube, dass ich mit dem iPhone ein lachendes Gesicht verschicke, doch bei den Diagnose- und Nutzungsdaten zeigt sich das wahre Naturell dieser Aktion: Daten und Programmierbefehle. Eine schier endlose  Aneinanderreihung von Zahlen, englischen Begriffen und eckigen Klammern. Codes, die Ressource des Digital-Zeitalters. Der denkwürdige Bodenschatz des 21. Jahrhunderts. Und zum ersten Mal in der Geschichte muss sich der Mensch zum Schürfen dieses Reichtums nicht einmal die Hände schmutzig machen. Im Gegenteil. Mit Surfen, Chatten und Videos gucken kann ein Smartphone-Besitzer leicht 20 Megabytes Daten am Tag produzieren.

Ein Bit bedeutet "Binary Digit" – die kleinste digitale Einheit. Sie trägt die Zahl „1“ oder „0“. Acht dieser digitalen Minis sind ein Byte. 1000 davon wiederum sind ein Kilobyte (KB). Würde man eine DIN-A4-Seite mit Schreibmaschinenzeichen vollschreiben, würden ungefähr 5Kilobyte drauf passen. Ein Megabyte (MB) sind schon 1000 Kilobyte, das heißt über 200 beschriebene DIN-A4-Seiten. Bei 20 MB bedeutet das, ich produziere 4000 Seiten am Tag – die ich nicht im Ansatz verstehe. Aber irgendwas oder irgendwer kann sie entziffern. Kann lesen, was ich wann, wie, wo gemacht habe. Es würde beispielsweise gesagt werden können, wie viele Smileys am 5. Mai 2014 von meinem Handy aus geschickt wurden. Mit wem ich gechattet, was ich von wo aus gekauft, gesucht oder angeschaut habe - während ich mich nicht einmal mehr daran erinnern kann, welcher Wochentag das war.  Wie bitte soll ich das meiner Tochter erklären? Etwa mit: „Maria, wenn du im Internet unterwegs bist, sei vorsichtig, du schreibst dabei ohne das du es merkst Bücher, die du übrigens nicht lesen kannst, andere aber sekundenschnell verstehen.“ Wenn sie mich da nicht für verrückt erklärt, muss sie mich sehr lieb haben.

Wie aber soll Maria sich souverän in einer Umgebung bewegen können, deren Textur sie nicht im Ansatz begreift? Vielleicht wird in 20 Jahren auch „der Algorithmus“ in den Nachrichten eine alltäglich wiederkehrende Größe sein, so wie heute „die Börse“. Permanent heißt es „die Börse reagiert darauf“ und dann kommen Adjektive wie nervös oder unbeeindruckt. So als sei Börse ein Wesen mit eigenen Werten, Erfahrungen und Gedanken. Dabei ist „die Börse“ inzwischen eher eine Art digitales Wettbüro. Beim sogenannten Hochfrequenzhandel entscheiden Nanosekunden über Aktienkurse und damit über Schicksale von Firmen und Angestellten. Was zählt, ist nicht Empathie, Weitblick oder Folgebewusstsein, sondern wie nahe die Server am System des Börsenbetreibers stehen. Schneller als ein Wimpernschlag reagieren sie mit Kaufen oder Verkaufen, lassen keinen Platz für Erklärungen oder Argumente.Wichtige politische Entscheidungen werden deshalb häufig am Wochenende getroffen. „Wir tagen am Freitag (Anm. hinter verschlossenen Türen) so lange, bis die Wall Street schließt, und wollen am Sonntag gegen Mitternacht fertig werden, bevor die erste Börse in Asien öffnet", gestand  Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker 2011 vorm Euro-Krisengipfel. So gab es den Hauch einer Chance, dass sich menschliche über maschinelle Logik stellen konnte. Die Schließzeiten der Börse bestimmt der Mensch. Algorithmen hingegen machen niemals Pause.

Sie zu verstehen entscheidet darüber, ob man Kunde, Akteur oder Ware ist, ist Softwareentwicklerin und Bundestagsabgeordnete Saskia Esken überzeugt. „Programmieren ist eine neue Kulturtechnik“, sagte sie bei der SPD-Fachtagung „Bildung in einer digitalisierten Welt“. Diese Kulturtechnik kann ich meiner Tochter, anders als Schreiben oder Rechnen, noch nicht beibringen. Da müssen Profis ran.

Einer davon ist Prof. Dr. Carsten Schulte von der Gesellschaft für Informatik, der mir am Rande der SPD-Fachtagung erzählte, wie er mit Schülern einen Algorithmus zur Analyse frei zugängliche Mobilfunkdaten – sogenannte Open Data - erarbeitete. Damit konnten die Jugendlichen selbst aus dem Zeichenwust Geschlecht, ungefähres Alter und Mobilität der Handybenutzer herauslesen. Informatikunterricht muss Pflichtfach werden, fordert Schulte. Damit alle Kinder und Jugendlichen begreifen lernen, wie man Zeichen transformieren kann.

Maria hat damit in gewisser Weise schon analog angefangen. Sie lernt gerade Noten lesen und ein Instrument spielen: knubbelige Punkt-Striche – geschriebene Noten, die sie in Klänge übersetzt.  Ich hoffe, dass es ihr mit diesem Assoziationsvermögen später leichter fallen wird, die kreative Energie der Zahlen zu begreifen.